Das Urteil zu Tattoo und KSK
Sozialgericht Hamburg, Urteil vom 18. Juni 2020, Az. S 48 KR 1921/19
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden, und begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht die Versicherungspflicht der Klägerin im Hinblick auf ihre Tätigkeit als Tattookünstlerin nach dem KSVG verneint. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind daher rechtswidrig und verletzen die Klägerin ihren Rechten und waren daher aufzuheben. Darüber hinaus war gem. §§ 1, 2 S. 1 KSVG i.V.m. § 8 Abs. 1 S. 1KSVG die Versicherungspflicht der Klägerin der gesetzlichen Renten-, der gesetzlichen Kranken- und der sozialen Pflegeversicherung nach dem KSVG auch ab dem 1.1.2018 bei der Beklagten festzustellen.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der Versicherungspflicht ist § 1 KSVG. Hiernach werden selbstständige Künstler und Publizisten in der allgemeinen Rentenversicherung, in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung versichert, wenn sie die künstlerische oder publizistische Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben und im Zusammenhang mit der künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit nicht mehr als einen Arbeitnehmer beschäftigen, es sei denn, die Beschäftigung erfolgt zur Berufsausbildung oder ist geringfügig im Sinne des § 8 SGB IV. Nach § 2 S. 1 KSVG ist Künstler im Sinne dieses Gesetzes, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin zur Überzeugung der Kammer erfüllt, denn die Tätigkeit der Klägerin lässt sich dem Bereich der bildenden Kunst im Sinne von § 2 S. 1 KSVG zuordnen.
Der Begriff der künstlerischen Tätigkeit ist aus dem Regelungszweck des KSVG unter Berücksichtigung der allgemeinen Verkehrsauffassung und der historischen Entwicklung zu erschließen. Aus den Materialien zum KSVG ergibt sich, dass der Begriff der Kunst trotz seiner Unschärfe auf jeden Fall solche künstlerischen Tätigkeiten umfasst, mit denen sich der „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht)“ aus dem Jahre 1975 (BT-Drucks 7/3071) beschäftigt. Der Gesetzgeber hat damit einen an der Typologie von Ausübungsformen orientierten Kunstbegriff vorgegeben, der in aller Regel dann erfüllt ist, wen das zu beurteilende Werk den Gattungsanforderungen eines bestimmten Kunsttyps entspricht. Bei diesen Berufsfeldern ist das soziale Schutzbedürfnis zu unterstellen, ohne dass es auf die Qualität der künstlerischen Tätigkeit ankommt oder eine bestimmte Werk- und Gestaltungshöhe vorgesetzt wird (std. Rspr., BSG, Urteil vom 23. März 2006 – B 3 KR 9/05 R, SozR 4-5425 § 2 Nr. 7 m.w.N.). Der Künstlerbericht mit seinen Katalogberufen dient allerdings lediglich als Einordnungshilfe, anhand derer selbstständig nachzuvollziehen ist, ob die zu beurteilende Tätigkeit nach den für die Aufstellung des Künstlerberichts maßgebende Kriterien einem der drei Bereiche künstlerischer Tätigkeit zuzuordnen ist und sie weder als Traditions- und Brauchtumspflege noch als (kunst)handwerkliche Tätigkeit – oder auch weil sie dem technischen Bereich zuzuordnen ist – aus dem Schutzbereich des KSVG ausgeschlossen ist. Würde der Bericht die Vielfalt und Dynamik in der Entwicklung künstlerischer oder publizistischer Berufstätigkeit missachten und neuartige Kunstformen ausschließen, stünde dies dem bewusst offengehaltenen Kunstbegriff des § 2 KSVG entgegen (BSG, Urt. v. 20.03.1997 – 3 RK 15/96 – „Musikinstrumentenbauer“; BSG, Urt. v. 24.06.1998 – B 3 KR 13/97 R – „Feintäschner“).
Im Künstlerbericht der Bundesregierung ist weder der Beruf des Tätowierers noch der der Tattookünstlerin verzeichnet. Das BSG ist in seiner Entscheidung vom 28.2.2007 (B 3 KS 2/07 R, juris) zu dem Ergebnis gekommen, dass die Tätigkeit des Tätowierens trotz einer kreativen Komponente – auch ohne Erfassung in der Handwerksordnung – eine handwerkliche Tätigkeit sei, weil der Schwerpunkt auf dem Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten liege, so dass es nicht der bildenden Kunst im Sinne des § 2 KSVG zugerechnet werden könne. In der Begründung heißt es, der kreative Arbeitsschritt diene nur als Vorarbeit zum handwerklichen Arbeitsschritt, der den Schwerpunkt der Tätigkeit bilde und aus dem der Tätowierer in erster Linie sein Einkommen erziele. Tätowierer könnten sich nicht mit einem Maler vergleichen, weil es dabei um die bereits nach allgemeiner Verkehrsauffassung als künstlerisch geltenden Tätigkeit des Malens gehe. Der „Kunstmaler“ betätige sich künstlerisch und nicht handwerklich, weil der Schwerpunkt der Tätigkeit im kreativen Schaffen und nicht im Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten bestehe.
Die Kammer ist der Auffassung, dass sich im Hinblick auf Tätowierungen, wie sie von der Klägerin gestochen werden, die allgemeine Verkehrsauffassung geändert hat. Über den sich seit den 80er Jahren entwickelten anhaltenden Modetrend hinaus, nach dem Tattoos kein Phänomen der Unterschicht und der Außenseiter mehr sind, sondern als Ausdrucksmöglichkeit für Exklusivität, Selbstdarstellung, Abgrenzung, sexueller Reiz, Schmuck, Protestsymbol oder politische Stellungnahme dienen, hat sich mittlerweile eine neue kreative Tätowierszene etabliert. An Hochschulen ausgebildete Künstlerinnen und Künstler verstehen sich nicht mehr als Dienstleister, sondern als Künstler und ihre Kunden als Leinwände; ihnen wird die Haut des menschlichen Körpers zur Schreib- und Malfläche. Bei diesen Kreativen hat sich der Schwerpunkt von einer handwerklich/technische Ausführung zu einer künstlerischen Betätigung im Sinne einer freien schöpferischen Gestaltung entwickelt, in der Intuition, Fantasie und Kunstverstand (vgl. BVerfGE 30, 173, 188) zusammenwirken, inspiriert von Kunstgeschichte und Grafikdesgin. Merkmale dieser Tattookünstler sind ein unverwechselbarer Stil, der sich gestalterisch auf hohem Niveau bewegt mit Motiven jenseits des Mainstreams sowie Tattoozeichnungen, die von Genauigkeit und Feinheit geprägt sind und nicht seriell verwendet werden. Hierzu gehören u.a. als bekannteste Vertreter in Deutschland Chaim Machlev, der für seine abstrakten Motive bekannt ist sowie Simone Pfaff und Volko Merschky, die einen eigenen „Underground-Stil“ geschaffen haben. Diese und weitere populäre Tattookünstler veranlassen Menschen viel Geld auszugeben und weite Strecken zu reisen, um das Tattoo eines speziellen Tätowierers auf ihrem Körper zu tragen (https://www.goethe.de/de/kul/mol/20885263.html).
Mag im Jahr 2007 die Erkenntnis noch zutreffend gewesen sein, dass der Kunstmaler nach der allgemeinen Verkehrsauffassung im Gegensatz zum Tätowierer seinen Schwerpunkt im kreativen Schaffen habe, der Tätowierer hingegen in der handwerklichen Ausfertigung, kann dies in der Eindeutigkeit im Jahr 2020 nicht mehr bestätigt werden. So ist die Gattung Tattoo „Museumsreif“ geworden, wie die Ausstellungen hierzu belegen. Die Ausstellung „gestochen scharf“ – Tätowierung in der Kunst – in der Villa Rot vom 24.3.13 – 28.7.13 (https://villa-rot.de/de/archiv-2-2/gestochen-scharf/) hat sich z.B. zur Aufgabe gemacht, angewandte Kunst praktizierender Tätowierer vorzustellen. Im Begleitheft zur Ausstellung „Tattoo“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG), an dem auch die Klägerin als Künstlerin teilgenommen hat, heißt es „Die Ausstellung „Tattoo“ widmet sich alten Traditionen und neuen Geschichten. der Blick richtet sich auf die lebendige, innovative und vielfältige Tattoo-Kultur, mit Augenmerk auf künstlerische, handwerkliche und kulturgeschichtliche Fragen. Die Schau präsentiert internationale Positionen aus diversen Perspektiven und nimmt aktuelle Diskussionen auf. Erstmals umfasst eine Ausstellung diese breite Palette von Bezügen und zeigt das Phänomen mit Fokus auf Kunst und Design; sind die bleibenden Bilder, Schriften und Symbole der Tattoos dich vielfach Inspirationsquelle für Künstler/innen und Designer/innen. So ist die gegenseitige Beeinflussung von Kunst, traditioneller und gelebter Tätowierkunst sowie visueller Gestaltung ebenso Thema der Ausstellung (https://mkg/hamburg.de/fileadmin/user_upload/MKG/Ausstellung/Aktuell/MKG_Tattoo_beglleitheft_DE_neu.pdf). Bei der Ausstellung „Tattoo-Legenden – Christian Warlich auf St. Pauli“ des Museums für Hamburgische Geschichte vom 27.11.2019 – 25.02.2020, der weltweit die erste Ausstellung, die sich monothematisch mit einem Tätowierer befasste, handelt es sich zwar um eine historische Ausstellung, dennoch wurden auch dort seine Vorlagen, die bereits als Buchform erschienen sind, in den Fokus kunstwissenschaftlicher Betrachtung genommen (O. Wittmann: Tattoos in der Kunst, 2017).
Der Auffassung der Beklagten, dass die Anerkennung der Klägerin als Künstlerin davon abhängig gemacht werden muss, ob sie in fachkundigen Kreisen als Künstlerin anerkannt und behandelt wird ist deshalb nicht näherzutreten. Denn ist ein Teil der Gattung Tattoo per se künstlerisch geprägt und die Tätowierungen vergleichbar mit Werken von Illustratorinnen und Grafikerinnen, bedarf es einer Anerkennung in Kreisen bildender Künstler, wie sie zum Beispiel vom Bundesverband der bildenden Künstler vertreten werden nicht mehr. Denn dann ist die Anerkennung bereits durch die Auswahl der Kuratoren gegeben mit der Konsequenz, dass es sich somit um Kunstausstellungen handelt, die zumindest im weiteren Sinne der bildenden Kunst zuzurechnen sind. Unstreitig ist die – auch internationale – Anerkennung der Klägerin innerhalb der „akademisch ausgebildeter Künstlerinnen und Künstlern aus dem Bereich Grafikdesign und Illustration, die auf dem Gebiet der tätowierten Kunst aktiv sind“ (Schreiben des MKG vom 23.4.2018), denn innerhalb dieses Kreises hat sie an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen. Offenbar ordnet das MKG ihre „Beteiligung an der Ausstellung „Tattoo“ definitiv mehr als Grafikkünstlerin“ ein. Soweit die Beklagte geltend macht, die Mitwirkung im Rahmen dieser Ausstellung habe nicht in erster Linie der Ausstellung eigener Arbeiten gedient, weil sie als Künstlerin ausgewählt worden sei, die Museumssammlung als Ausgangspunkt für neue Tattoo-Motive zu nutzen, kann dieser Gedanke nicht überzeugen, denn die Klägerin hatte sich vom Bestand des MKG künstlerisch anregen lassen und hierzu eine Zeichnung angefertigt, die als Fineprint ausgestellt wurde. Im Ergebnis ist diese Ausstellung, an der die Klägerin teilgenommen hat, überwiegend dem künstlerischen Bereich zuzurechnen.
Das BSG hat in der maßgeblichen Entscheidung (B 3 KS 2/07 R a.a.O.) darauf abgestellt, dass Tätowierer sich nicht auf das Entwerfen und Zeichnen von Tattoo-Motiven und Vorlagen beschränken, sondern ihr Einkommen aus dem Einsatz manuell technischer Fertigkeiten beziehen. Die vom BSG vorausgesetzte Schwerpunktbildung auf die handwerkliche Umsetzung kann im Falle der Klägerin nicht angenommen werden, denn sie hat die Kammer davon überzeugt, ihre klassische Tätigkeit als Illustratorin auf der Haut ihrer Kunden fortzuführen. Entscheidend ergibt sich das aus dem Umstand, dass die Klägerin erheblich mehr Zeit für den Entwurf aufwendet, den sie darüber hinaus als Unikat erstellt, wie es gleichfalls bei ihren Illustrationen, die als T-Shirt Drucke oder für Merchandise Produkte Verwendung finden, der Fall ist.
Bereits in der Entscheidung des BSG (Urteil vom 07. Juli 2005 – B 3 KR 29/04 R -. SozR 4-5425 § 24 Nr. 7) wurde ein Vergleich zwischen den „klassischen“ Berufen des Grafikdesigners, Fotodesigners und Layouters und der neuen Tätigkeit des Webdesigners gezogen, nach der sich zeige, dass sich die Aufgaben und Tätigkeiten in diesen Berufsfeldern weitgehend deckten und sich im Wesentlichen nur durch das zu bearbeitende Medium unterscheiden. Aus diesem Grund sei der Webdesigner den Katalogberufen „Grafikdesigner, Fotodesigners und Layouter“ gleichzustellen. Der Umstand, dass der Web-Designer seinen Entwurf eigenhändig computertechnisch umsetzt, hinderte das BSG indes nicht an der Anerkennung als Künstler (Wagner, jurisPR-sozR 17/2007 Anm. 5). Im Falle der Klägerin wird die klassische Bearbeitung von Papier mit dem Stift durch das Stechen der Haut mit der Tätowiermaschine ersetzt.
Zusammenfassend bedeutet das auf den vorliegenden Fall bezogen: Es liegt Vergleichbarkeit der Arbeit der Klägerin als Tattookünstlerin mit denen einer Grafik-Designerin, Illustratorin oder Kunstmalerin vor. Sie hat ihre gestalterische Ausbildung an einer Kunsthochschule und berufliche Tätigkeit als Illustratorin für andere Meiden in ihr Betätigungsfeld als Tätowiererin übernommen. Zum Teil in vollständig freier schöpferische Gestaltung, zum Teil nach gestalterisch auslegungsfähigen Vorgaben der Kunden hat die Klägerin einen eigenen, wiedererkennungsfähigen, illustrativeren Stil und damit eine spezielle Ästhetik als Künstlerin entwickelt. Diese individuelle Ausdrucksart kann auch nur durch die Klägerin eigenhändig ausgeführt werden, weil es entscheidend – wie bei der Illustratorin überhaupt – auf die spezifische Umsetzung, den „eigenen Pinselstrich“ ankommt. Für die Kammer hat des Weiteren besonderes Gewicht, dass die Klägerin weitgehend die hergebrachten Motive konventioneller Tätowierer verlassen hat und eigene, wiederkehrende Themen bearbeitet, wie z.B. die von ihre genannten Häuser einer Hexengestalt aus der russisch-polnischen Sagenwelt. Schließlich ist auch von Bedeutung, dass sich die Klägerin insoweit nicht als Dienstleisterin im Sinne eines handwerklich geprägten Tätowierers versteht, als dass sie ihren Kunden keine Änderungswünsche nach Fertigstellung des eigenen Entwurfs zubilligt. Nach Allem hat sie das konventionelle Berufsbild des Tätowierers, der Körperschmuck als modisches Accessoire technisch-manuell auf die Haut aufbringt, verlassen.
Der Kammer ist bewusst, dass zwischen (schon) künstlerisch oder (noch) handwerklich geprägten Tattoos im Einzelfall, anders als vorliegend, nicht scharf zu trennen sein kann. In diesem Fall wäre die Frage nach der Künstlereigenschaft von Tätowierern wohl gutachterlich zu klären.